Donnerstag, 9. Januar 2014

Fernbedienung

Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden: Wenn ich hier von meiner Fernbedienung rede, dann meine ich natürlich nicht ein Gerät, mit dem man mich ein- und ausschalten kann. Ein Knopfdruck – und ich verstumme, spreche lauter oder leiser, oder wechsele zwischen verschiedenen Gesprächsthemen hin und her. So ein Gerät gibt es nicht – so bedauerlich das auch für manche meiner Mitmenschen sein mag.

Wenn ich also von meiner Fernbedienung spreche, dann ist die gemeint, mit der ich meinen Fernseher bediene. Wie schön das sein kann, hatte ich fast vergessen. Meinen allerersten eigenen Fernseher hat mir meine Mutter mit auf den Lebensweg gegeben, als ich von zu Hause auszog. Er stammte noch aus einer Epoche der Menschheitsgeschichte, als Strahlen etwas waren, was nur in Science-fiction-Filmen von bösen Aliens dazu eingesetzt wurden, um die rückständigen Waffen der Erdlinge außer Gefecht zu setzen. Aber die Kunst prägt unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. So war die Hemmschwelle hoch, als meine Mutter sich einen neuen Fernseher anschaffte und zum ersten Mal die Fernbedienung in die Hand nahm. Es ging alles gut, d.h. nichts explodierte und keine grünhäutigen Migranten übernahmen die Macht.

Von diesem Tag an legte meine Mutter die Fernbedienung kaum mehr aus der Hand. Schlimmer noch: Sie klagte bitterlich darüber, dass nicht auch die Kaffeemaschine, die Waschmaschine oder der Staubsauger mit ihr bedient werden konnten.

Nach ihrem Tod erbte ich ihren Fernseher und so wiederholte sich die Geschichte. Auch in meiner Wohnung wurde nun der alte kleine durch den großen neueren Apparat ersetzt. Da es mir in der Zwischenzeit nicht gelungen war, ein Kind zu zeugen und aufzuziehen und in die Welt hinein zu schicken, blieb dem alten Fernseher allerdings das Schicksal erspart, ein weiteres Mal seine Heimat zu verlieren. Aber, und das gestehe ich nicht ohne Scham, abgeschoben habe ich ihn trotzdem. Und perfide, wie ich in Wirklichkeit bin, habe ich bei meinem nächsten Umzug sogar versucht, ihn zu verschenken. Erfolglos allerdings, denn, unter uns gesagt, viel war nicht mehr mit ihm los.

Ich war also schließlich in den Besitz eines Fernsehers mit Fernbedienung gekommen, aber dieses televisionäre Luxusleben währte nicht allzu lange. Wie Sie sich erinnern werden, hatte meine Mutter ausgiebig Gebrauch von der Fernbedienung, diesem Wunderwerk der Technik, gemacht. Das hat seine Spuren hinterlassen. Es wäre eine Untertreibung zu sagen, dass die Tasten dieser Fernbedienung abgenutzt waren. Nein, sie waren schartig und schrundig geworden, sahen abgewetzt und deformiert aus, verstümmelt, könnte man sagen, wenn das nicht doch etwas zu hart klingen würde. Die Beschaffenheit des Plastiks, aus dem sie bestanden, kann am besten als brüchig und porös bezeichnet werden – und trotzdem: trotzdem konnte dieses Instrument noch eine ganze Zeit lang von mir verwendet werden.

Dann kam, wie so oft bei altgedienten technischen Geräten, die man nicht ersetzen kann oder will, die Zeit der Tricks und Provisorien. Ich flickte sie hier mit Tesafilm und dort mit Klebstoff. Aber der Niedergang war nicht aufzuhalten. Die Tasten reagierten nur noch auf grobe Kraftanstrengungen meines Daumens und der Batterieschacht konnte nichts mehr bei sich behalten. Sein Verschluss war abgebrochen und die Batterien rutschten heraus. Also griff ich wieder zum Tesafilm, diesem Verbandszeug verwundeter Gebrauchsgegenstände.

Und dann kam der Tag, an dem es so aussah, als würde nun wirklich nichts mehr gehen. Ich drückte die Tasten und drücke noch stärker – und nichts geschah. Bleib bei mir, halte durch! raunte ich dem geschundenen Ding in meiner Hand durch meine zusammengebissenen Zähne zu. Aber das rote Auge, das seine Funktion anzeigte, blieb blind. Ich holte tief Luft und starrte auf das zerklüftete Tastenfeld. Der hemmungslose Gebrauch hat die Ziffern unter den Tasten schon längst verwischt und verschwinden lassen. Statt dessen hatten sich dort undefinierbare Schmutzablagerungen breit gemacht.

Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, ich muss wohl spontan einer Intuition gefolgt sein. Ich presste das komatöse Gerät zwischen meine Oberschenkel. Und tatsächlich: Es spürte die Wärme meines Körpers. Diese Wärme hat es wiederbelebt, hat es zurück geholt ins Leben. Die Fernbedienung war schon durch einen schwarzen Tunnel auf den großen weißen Bildschirm zu geschwebt, dessen Licht sie nicht an- oder ausschalten konnte – und auf halbem Wege hat sie dann doch noch Kehrt gemacht, um zu mir zurückzukehren.

Alles war wieder gut. Aber von nun an war die Fernbedienung geradezu abhängig von meiner Körperwärme. Diese neue Intimität zwischen uns war mir offen gestanden etwas peinlich. Wenn ich mit anderen Leuten bei mir fernsah, bediente ich die Glotze mit der Hand. Nur wenn wir allein waren, presste ich sie wieder an meinen Körper und sie dankte es mir damit, dass sie während der Werbeblöcke auf Pro7 oder Vox den Ton verstummen ließ.

Aber das Ende war unausweichlich. Kurz gesagt: Irgendwann hatte ich eine Neue, so eine Universalfernbedienung, also das technische Äquivalent zu einem billigen Flittchen. Und von nun an galt der alte Satz: Neue Fernbedienung, neues Glück. Die Willfährigkeit, mit der sich die neue Fernbedienung in meine Hand schmiegte, hätte mich stutzig machen müssen. Aber alles lief gut – zu gut. Ich berauschte mich an dem mühelosen Hin- und Hergleiten zwischen den Sendern. Und wie das so ist mit den Rauschzuständen: Sie führen dazu, das man schlechte Angewohnheiten annimmt. Und nichts ist so schwer abzulegen, wie schlechte Angewohnheiten. Warum? "Sie machen," so Oscar Wilde, "einen so wesentlichen Teil unserer Persönlichkeit aus." Die schlechte Angewohnheit, die ich annahm, bestand darin, vor dem Ausschalten noch einmal "durchzuzappen". Und Sie werden ahnen, was jetzt kommt. Wenn man durch die Kanäle zappt, und sei es Morgens um drei, findet man immer etwas, was man sich noch mal kurz ansehen möchte. Dann ist es vorbei und bevor man ausschaltet, zappt man noch einmal kurz durch. Und so beginnt das Spiel immer wieder von Neuem. Im Grunde ist es also gar nicht möglich, dass ich unter diesen Umständen noch einmal vom Fernseher wegkomme. Aber es funktioniert – obwohl ich nicht weiß, wie und warum. Vielleicht ist es also doch wahr, was ich vorhin noch so vollmundig als Irrtum oder Illusion abgetan habe: Es gibt da irgendwo einen Jemand und er hält meine, d.h. die Fernbedienung für mich, in der Hand. Und manchmal drückt er einen Knopf, der bewirkt, das ich auf den Aus-Knopf meiner Fernbedienung drücke.

Keine Angst, ich will Ihnen hier keine neue Art von Gottesbeweis unterjubeln. Obwohl … Das technische, und erst recht das elektronische Zeitalter haben weder den Glauben, noch den Aberglauben verdrängt. Vielmehr haben sie nur neue Formen des Aberglaubens hervorgebracht. Und das ist gut und richtig so, denn der Aberglaube entspringt der Furcht und die Furcht ist immer gerechtfertigt. Auch und vor allem, wenn es um Fernbedienungen geht.

Früher habe ich meine Mutter noch verhöhnt. Ich lag hingeflätzt in meinem Wohnzimmersessel, die Fernbedienung des neuen Fernsehers in der Hand und Mutter schnauzte mich an: Ich solle ja nicht mit der Fernbedienung auf auf sie zielen und schon gar nicht dabei einen der Knöpfe drücken. "Hast Du Angst zu verschwinden, wenn ich auf den Knopf drücke?", so spottete ich. Aber gedrückt habe ich dann doch nicht – nicht einmal im Spaß. Auf einer tiefen, intuitiven Ebene haben wir damals wohl beide bereits verstanden, was hier für Gefahren lauern.

Donnerstag, 26. Dezember 2013

Krähen

Da sind sie wieder, die Krähen. In dieser Jahreszeit sind sie immer deutlich hörbar über der Stadt unterwegs. Gehen sie doch mal ans Fenster und werfen Sie einen Blick nach draußen, dann werden Sie es auch zu sehen bekommen: Da hinten sitzen sie in den kahlen Bäumen. Ja, im Herbst tragen die Bäume schwarze, krächzende Früchte. Aber pflücken will sie keiner. Oder da drüben, das sieht richtig gut aus, wie sie sich da auf dem schrägen Dach versammeln: eine Kähenkonferenz. Wie in einem Hörsaal, nur mit dem Unterschied, dass keine von ihnen etwas vorträgt. Was auch? Für so eine Krähe ist doch immer schon alles klar. Wozu da noch lange palavern? Und so sitzen sie auch da, schön nebeneinander, ohne nach links oder rechts zu schauen, ohne einen Piep, oder genauer: einen Krächzer von sich zu geben. Manchmal gibt es eine Drängelei, das schon, aber sonst hocken sie ganz einträchtig bei einander. Und dann, ohne erkennbaren Grund, flattern sie alle zusammen auf, kreisen ein wenig über den Dächern und verschwinden da hin, wo man sie nicht mehr sehen kann. Tagsüber zumindest sehe ich sie nur einzeln oder in Kleingruppen, nie in diesen Scharen wie gegen Abend.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, wie seien ihnen egal. Aber das täuscht. Diese schwarzen Brüder und Schwestern sind nicht so tumb wie die Tauben. Denken Sie das nicht. Krähen lassen Nüsse, die sie irgendwo aufgepickt haben, auf die Straße fallen und warten dann, bis ein Auto drüber fährt. Sie benutzen uns also. Als Nussknacker. Habe ich selbst schon gesehen. Unten auf der Straße. Die ist ja auch ideal dafür geeignet. Eine ruhige Seitenstraße, aber auch nicht völlig abgelegen, sondern genau richtig, was die Frequenz durchfahrender Autos angeht.

Manchmal bleibe ich schon stehen, wenn ich Krähen zu Gesicht bekomme, nur um zu sehen, was sie jetzt wieder machen. Und sie enttäuschen mich selten. Neulich etwa, da war so eine, genau vor dem Haus. Sie schien erstmal nichts Besonderes im Sinn zu haben, guckte noch nicht mal zu mir hin, schien sich gar nicht für mich zu interessieren. So zumindest sah es aus. Sie lief einfach nur über die Fahrbahn. Aber dabei hüpfte sie so komisch. Wirklich komisch. Wahrscheinlich habe ich gegrinst und sie hat das mitbekommen. Und dann setzte sie noch einen drauf. Sie machte einen Schritt, schüttelte das linke Bein, lief weiter, schüttelte das rechte Bein und machte dann noch ein bißchen weiter mit der Nummer. Das sah wie eine Charlie Chaplin-Imitation aus, nur ohne Stock und Melone. Aber man sollte auch nicht zuviel erwarten von so einer Krähe. Immerhin hat sie es versucht und es sah gar nicht mal so schlecht aus. Und das Beste daran war: Sie ist danach nicht gleich mit dem Hut herum gegangen, um für ihre Darbietung auch gleich etwas einzuheimsen. Wozu auch? Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie mit anderen Tätigkeiten.

Das soll jetzt nicht heißen, dass die Krähen immer gut gelaunt wären und Spaßvögel in des Wortes vollster Bedeutung. Sie können auch anders. Auf dem Weg zum Einkaufen in der Innenstadt, am Kanal, habe ich mal eine gesehen, die hat da ganz andere Saiten aufgezogen. Zuerst dachte ich: 'Was soll das denn jetzt?' Denn ihr Krächzen wuchs sich zum Gezeter aus und war schon ohrenbetäubend. Natürlich blieb ich stehen, um aus dem Ganzen schlau zu werden.

Da saß also die Krähe auf so einem Bäumchen am Straßenrand, so einem ganz kleinen Baum, der es nie zu etwas bringen wird, so eingezwängt zwischen Fußweg, Zaun und Parkscheinautomaten. Und die Krähe saß auf einem dürren Ast und war schier außer sich. Ich sah da hin, wo sie hinstarrte und sah unten in einem Gebüsch einen jungen roten Kater sitzen. Ihn beschimpfte die Krähe. Unflätig, wie mir schien, aber ich kann das natürlich nicht mit Sicherheit sagen. Auf jeden Fall putzte sie ihn runter, aber so richtig! Und der Kater tat so, als ob nichts wäre, als ob ihn das Ganze überhaupt nichts angehen würde. Er schaute noch nicht einmal hoch und machte ansonsten einen auf cooler Typ, fing an sich zu putzen als wollte er sagen: 'Leck mich doch – und wenn Du es nicht machst, dann mach ich es selber.' Aber die Krähe hörte einfach nicht auf und das ließ bei dem Kater dann doch die Fassade bröckeln. Er lief ein Stück, legte sich wieder hin, aber es war zu sehen, dass er sich doch nicht mehr so wohl in seinem Fell fühlte. Nicht, dass die Krähe ihn etwa angreifen wollte, das nicht. Aber inzwischen war sie runter geflogen, ihm hinterher, dabei immer auf den Sicherheitsabstand bedacht. Der Kater gab schließlich klein bei und machte sich davon. Er ist nicht weggelaufen, beileibe nicht. Immer schön langsam trollte er sich, sich bloß nichts anmerken lassen. Die Krähe ließ ihn immer noch nicht aus den Augen. Und auch ich bin ein Stück weiter gegangen, um sehen zu können, wie die Sache ausging. Sie ging nicht aus. Der Kater verschwand zwischen Beeten und Büschen, die Krähe flatterte herum und verschwand dann ebenfalls. Nur ich stand am Ende noch da und hatte noch immer das Gezeter im Ohr. Und ich wusste immer noch nicht, um was es denn nun eigentlich gegangen war.

Dabei höre ich das gar nicht so ungern, das Krächzen als Solo oder im Chor, wenn es durch die Luft kommt, aus der Luft, von oben und von Weitem. Das ist kein Gesang, überhaupt nicht, soviel dürfte wohl sicher sein, aber reiner Krach ist es auch nicht. Es ist laut, scharf, man hört sofort, dass es von einem Tier kommt, von einem schwarzen Tier, das über unseren Köpfen kreist. Aber was genau bekommen wir denn da zu hören? Ich verstehe ein wortloses Nein, eine ganze wortlose Sprache, oder besser: eine Einwortsprache mit nur einer Vokabel: Nein. Kein Wunder, dass der Kater den Schwanz hängen ließ und ihn dann schließlich eingeklemmt hat. Soviel schwarzes Nein wird einem selbst dann leicht zuviel, wenn man sogar vier Beine hat, auf denen man im Leben stehen kann. Ich bin da nicht so gut beieinander, schließlich habe ich nur zwei. Und die werden auch schon ganz weich, wenn ich daran denke, wie weit ich noch zu laufen habe.

Donnerstag, 12. Dezember 2013

Rat Salad

"Er hätte nie gedacht, dass die Literatur das beste Spielzeug sei, das je erfunden worden war, damit man sich über die Leute lustig machen konnte." Gabriel Garcia Marquez Hundert Jahre Einsamkeit


Gelbe Säcke bewegen sich nicht. Normalerweise. Dieser aber schon. Und Rascheln tut er auch noch. Grund genug für mich stehenzubleiben. Ich halte nichts von Naturbeobachtung. Ehrlich gesagt verachte ich die Leute, die ich so oft im Botanischen Garten sehe, wie sie da mit verklärtem Blick die Pflanzen anhimmeln. Oder schlimmer noch: mit teuren Kameras die Blumen beim Blühen ablichten. Papparazzi sind das - und kein bisschen besser. Und was sie dann mit den Fotos machen - das will ich mir gar nicht erst ausmalen ... die Botanophilen-Szene ... gräßlich.

Aber so ein gelber Sack, der sich bewegt und dabei raschelt - das gefällt mir. Es ist auch ganz schön was los da drin. Und jetzt sehe ich auch, wer da unterwegs ist. Zwei Ratten ... mindestens. So genau ist das in dem Durcheinander nicht zu erkennen. Ratten sind ja auch nicht dafür bekannt, mit ruhiger Gelassenheit ihrem Tagwerk nachzugehen. Sie leben immer an der Schwelle zur Panik ... und dazu haben sie auch allen Grund, denn beliebt sind sie nicht gerade. Und das hier ist schon ein riskantes Unternehmen, so am helllichten Tag einen Wertstoffsack auf Essbares zu untersuchen. Fündig werden sie bestimmt, ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Menschen so akribisch jede Dose, jede Tüte und jede Plastikverpackung von Nahrungsrückständen befreien. Das, was man gleich wegwerfen wird, erst noch richtig sauber machen? Nicht mal in Deutschland kann man sich dazu aufraffen. Aber das nachlässige Wegwerfen läßt nicht unbedingt auf Geberlaune schließen. Die Ratten wissen das ... deshalb diese Hektik, mit der sie in dem gelben Sack ständig oben drüber krabbeln und unten duch schlüpfen.

Für einen Moment mache ich mir Sorgen: Was wäre, wenn die Säcke jetzt abgeholt würden? Ich sehe es vor mir: kläglich fiepsend, eingekeilt zwischen Hartplastikschalen von Fertiggerichten, Energydrinkdosen und nachlässig ausgekratzten Joghurtbechern würden sie mit dem ganzen Müll auf die Ladefläche eines Lasters geworfen, um einer ungewissen Zukunft entgegen gekarrt zu werden.

Aber nein, die kommen schon klar, die Ratten, denke ich mir dann. Als Ratte hat man immerhin den Vorteil, sich immer einen Fluchtweg freinagen zu können ... beneidenswert eigentlich, wenn man so als Mensch darüber nachdenkt. Und das Material, aus dem so ein gelber Sack besteht, bietet da nun wirklich keinen ernstzunehmenden Widerstand ... wie jeder weiß, der wie ich, schon einmal einen halbvollen und schon halbzerfetzten Sack in einen zweiten gesteckt hat, der allein durch dieses Hineinstecken auch schon wieder einen ersten Riss bekommen hat.

Einen Tag später waren dann die Säcke tatsächlich abgeholt worden. Aber eine Ratte war noch da. Sie saß aufrecht da auf ihrem Hinterteil und stemmte die Vorderpfoten in die Hüften. Wir sahen einander an. Dann blickte die Ratte wieder rüber zu der Stelle, an der gestern noch das gelegen hatte, was für sie wohl eine paradiesische Mischung aus Restaurant und Abenteuerspielplatz gewesen war. Und dann sah sie wieder mich an - vorwurfsvoll. Ich verspürte augenblichlich das Bedürfnis, mich vor ihr zu rechtfertigen ... zu erklären, dass ich keinerlei Einfluss auf den Gang des Dualen Systems habe ... zu versprechen, dass ich beim nächsten Mal üppige Speisereste an meinem Plastikmüll zurücklassen würde ... Aber dann zuckte ich doch nur hilflos mit den Schultern und ging weiter.

Später erzählte ich dann Frau Voss von dem, was ich da beobachtet und erlebt hatte. Sie ging mit verletzender Selbstverständlichkeit davon aus, dass es sich hier wieder um eine meiner gewohnten Lügengeschichten handele. Ich beschrieb ihr noch einmal die näheren Umstände, die Ratte (dunkelbraun mit ausdrucksstarken schwarzen Augen) und den Inhalt unserer stummen Zwiesprache. Aber nichts. Frau Voss ließ sich nicht von der Tatsächlichkeit der Begebenheit überzeugen. Mehr noch: Sie riet mir, "diese Geschichte", wie sie meinen Erlebnisbericht abfällig nannte, auf keinen Fall in einer realistischen Erzählung oder einem Roman zu verwenden. "Zu weit hergeholt", das war ihr Urteil.

Wieder einen Tag später traf ich erneut mit der Ratte zusammen. Fast hätte ich sie übersehen, denn sie verbarg sich hinter einem der Räder dieser rollbaren Müllcontainer. Geduckt saß sie da ... nicht lauernd, aber doch abwartend. Das war clever, denn sie hatte die Dusseligkeit der Menschen auf der Rechnung. Auch ich hatte schon oft genug beobachtet, dass die ersten Säcke schon einen Tag nach dem Abholtermin rausgestellt werden ... was ihnen die Gelegenheit gibt, 14 Tage lang als Partyzone für Ratten und Krähen zu dienen.

Ich kauerte mich vor den Müllcontainer hin und erzählte der Ratte, dass Frau Voss unsere Geschichte für unglaubwürdig hielt. Unwillg schüttelte die Ratte den Kopf und sagte: "Die hat wohl noch nie etwas vom Magischen Realismus gehört ... bei dieser narrativen Strategie verschwimmt die Grenze von Wirklichkeit und Traum ... und das ist auch gut so ... ich könnte hier keinen Tag durchhalten in diesem Dreck, den die Menschen da machen, wenn ich immer nur an die Wirklichkeit denken würde ... Klar: man muss die Augen schon offen halten - nicht nur wegen dieser blöden Katzen, die hier überall rumlaufen", und sie spuckte verächtlich bei dem Wort "Katze" neben sich auf den Boden, "... nein, sondern auch, weil einem dieser Zauber der Dinge sonst entgehen würde, die kleinen Wunder, das, was man für unmöglich gehalten hat, und was dann doch ganz plötzlich Wirklichkeit wird."

Und dann beschrieb sie mir wortreich ein solches Wunder. Sie erzählte von den Fleischstücken und Schinkenscheiben die manchmal (wenn auch leider viel zu selten) im Müll zu finden sind: noch verpackt in unversehrten Plastikhüllen ... und das Verfallsdatum ist nach nicht einmal abgelaufen! So etwas zu finden: ein magischer Moment ... ein Moment, in dem sich das Unwirkliche einen Weg in die Wirklichkeit gebahnt hat ... und so weiter ...

Die Ratte konnte noch sehr viel mehr zu diesem Thema sagen ... sie steigerte sich geradezu hinein. Für mich hieß das, dass sie auch mal hin und wieder einen Abstecher in einen Altpapiercontainer machte, um dort das Feuilleton einer renomierten Wochenzeitung oder die Fehlausdrucke von literaturwissenschaftlichen Doktorarbeiten meiner Nachbarn zu studieren. Und natürlich zerfledderte Ausgaben der Romane von Marquez. Sie hat schon Recht: man kann nicht immer nur nach Nahrung suchen ... man braucht auch Ideen und Fiktionen, um über den den Tag zu kommen.

'Und überhaupt', dachte ich so auf meinem Weg durch die Fußgängerzone, 'es wird nur eine Frage der Zeit sein, wann der erste Roman erscheinen wird, der von einer Ratte geschrieben wurde ... dann wird es zu einem regelrechten Boom kommen ... und dann, in ferner Zukunft, wird es auf der Frankfurter Buchmesse einen Themenschwerpunkt Literatur der Nagetiere geben' ... Ich will ja nichts gegen die brasilianische Literatur sagen, die in diesem Jahr gewürdigt wurde oder gegen die finnische ... es ist ja in Ordnung, wenn eine kanadische Autorin den Literaturnobelpreis bekommt ... aber: der Roman einer Ratte, das wäre wirklich mal was ganz Neues, etwas ganz anderes, mit Einsichten, auf die man so als Mensch wohl niemals kommen würde.

Donnerstag, 28. November 2013

Karitative Wegelagerei

In der Fußgängerzone werde ich angesprochen: "Einen guten Tag, der Herr - " Wenn das schon so anfängt, dann bedeutet das nichts Gutes. Es ist eine junge Frau, die mich da angesprochen hat. Farblich ist ihre Kleidung auf die Farben des Infostands abgestimmt, den sie im Rücken hat. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich eine Vision: Dieser Stand ist der Körper eines Monsters ... es ist die Bestie des Humanismus, die Fangarme in Form von jungen Leuten ausgestreckt hat ... ihre Münder sind Saugnäpfe ... verbale Saugnäpfe!

Um dieses Bild (und alles andere) zu verscheuchen, schüttelte ich heftig den Kopf. "Kein guter Tag ... ?", ruft mir der junge Tentakel hinterher und ich beschleunige, ohne es zu wollen, meinen Schritt.

Gibt es wirklich ein Hilfsorganisation, die Ärzte ohne Kinder heißt? Ich habe eben nur mit einem halben Auge hingesehen und darf mich jetzt nicht umdrehen. Wie schnell wird doch von solchen Leuten Neugier mit Interesse verwechselt - und dann setzen sie den fatalen oralen Saugnapf an.

Und weiter. Auf dem Marktplatz werde ich zu einem Slalomlauf gezwungen. Es sind aber nicht irgendwelche Stangen, denen ich hier ausweichen muss, es sind - wieder! - junge Frauen ... junge hübsche Frauen, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Kaum habe ich einen Bogen (einen wie ich meine deutlich als symbolisch erkennbaren Bogen) um die eine geschlagen, laufe ich auch schon der Nächsten in die Arme. Bildlich gesprochen. Denn sie öffnet nicht etwa ihre Arme, als ich da so knapp an ihr vorbei schramme, sondern ihren Mund. Während ich Tempo aufnehme, höre ich noch, dass sie mir etwas von "Naturschutz" hinterher ruft.

Ich überlege: An sich wäre das keine schlechte Methode, Frauen kennenzulernen. Man läßt sich einfach mitten auf dem Marktplatz ansprechen ... man muss gar keine Initiative ergreifen ... stressfrei ... paradiesisch. Und dann muss man einfach nur geschickt vom Thema Regenwald auf andere Feuchtgebiete überleiten. Und wenn sich dann herausstellt, dass die junge Frau, die man für eine politisch engagierte Studentin gehalten hat, in Wirklichkeit eine Achtklässlerin ist, die gerade einen massiven Wachstumsschub in alle mögliche Richtungern erlebt hat und wenn sich dann überdies herausstellt, dass es hier am Marktplatz tatsächlich eine Polizeistation gibt, die in Rufweite (oder besser gesagt: in Kreischweite) liegt, dann kann man sich auf jeden Fall darauf berufen, dass sie ja angefangen hat.

Das alles kann man - wenn man nicht so feige ist wie ich.

Alle diese Gedanken beschäftigten mich auch noch auf dem Rückweg, als ich mit dem Einkaufen fertig war. Sie beschäftigten mich so sehr, dass ich nicht merkte, wie mir schon die nächste karitative Wegelagerin auflauerte. Genauer gesagt: Sie schritt zielstrebig auf mich zu, hielt mir die Hand zum Schütteln hin, ignorierte dabei die Tatsache, dass ich wegen der Einkaufstaschen keine Hand frei hatte und stellte sich mir vor: "Hallo, ich bin Sabrina und - " Und was? Ich weiß es nicht, denn ich bin geflohen. So viel Entschlossenheit macht mir Angst ... am Ende hätte sie mir nicht nur die Hand geschüttelt, sondern mich auch anderweitig angefasst ... überall ... weil der Zweck die Mittel heiligt. Damit muss man rechnen.

Sie halten das für übertrieben? Dann denken Sie mal nach: Wenn sich jemand erst einmal für einen guten Menschen hält, der den Auftrag hat, Gutes zu tun, dann wird er gefährlich. Er wird unberechenbar, denn er glaubt, nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht zu haben, um des Guten willen alle Regeln des Anstands und der Sittlichkeit außer Acht lassen zu dürfen ... schlimmer noch: zu müssen. Das Ergebnis? Wenn die Menschen zu gut werden, dann wird die Welt wieder ein bißchen schlechter. Ich merke das daran, dass ich jetzt doppelt so lange zum Einkaufen brauche, denn ich kann mich von nun an nur noch durch abgelegene Seitenstraßen an meinen Supermarkt heran pirschen. Denn zum Glück gibt es keine guten Menschen jenseits der Fußgängerzone.

Donnerstag, 14. November 2013

Der letzte Friseur

Ich habe überlebt ... wider Erwarten ... und wider Willen. Ich habe alles hinter mir und kann jetzt darüber berichten. Es ist nicht das Ende, wenn man als Mann seine Haare verliert - es fühlt sich nur so an. Man hat ja schon von allen möglichen abstrusen Krankheiten gehört, aber der letale Haarausfall gehört nicht dazu. Es tut nicht weh, wenn ein Haar ausfällt oder mehrere - zumindest nicht körperlich.

Schon mit ungefähr 16 Jahren wusste ich, was da bei mir im Gange war. Nach dem Baden stand ich mit nassen Haaren vor dem Spiegel und klatschte sie mir alle glatt an den Hinterkopf. Dann faltete ich die Hände über der Stirn, die Unterkante der kleinen Finger genau über dem Haaransatz. Er lag schon damals beunruhigend weit oben. Und so, mit den gefalteten Händen über der Stirn, erzeugte ich die Illusion einer Glatze. Der Blick in den Spiegel war ein Blick in meine Zukunft. Sie gefiel mir nicht. Aber jetzt wusste ich, woran ich war - und ich nutzte die kommenden Jahre, um mich damit abzufinden.

Hier ein Wort an die forschende Pharmaindustrie: Ihr seid auf dem Holzweg! Das Problem ist nicht das Haar, nicht seine schwächliche Wurzel oder ein Übermaß an Testosteron, das Problem sind die anderen Menschen (wie so oft ... wie fast immer). Durch ihren Spott und erst recht durch ihre in aller Unschuld geäußerte Vorliebe für langes, wallendes Männerhaar machen sie den Haarausfall zu meinem Problem. Hier zeigt sich die unterschwellige Grausamkeit, die alle zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmt. Schließlich gilt: Haare sind Körperteile - das muss man sich immer klar machen. Wer schon bei dem Gedanken erschauert, bei einem Unfall oder durch eine Operation einen Körperteil einzubüßen, der sollte doch eine ungefähre Vorstellung davon haben, wie es ist, Tausende davon zu verlieren ... was sage ich! Abertausende!

Verzweifelte Situationen provozieren verzweifelte Maßnahmen. So verlangte ich schließch im Friseursalon nicht mehr danach, meine Haare schneiden, sondern sie nur noch rasieren zu lassen. Das Ab-damit! genügte mir nicht mehr ... jetzt brach sie an: die Zeit des Weg-damit! Und was für eine Befreiung das war - nicht nur finanziell, nicht nur psychologisch, sondern auch ästhetisch. Denn auf dem Kopf rasiert zu werden ist nicht nur billiger, es kann auch nichts mehr schief gehen. Klar: wer sich in einem vollständigen Frisurverzicht übt, der ist der Sorge ledig, dass da irgendwas nicht richtig geschnitten wurde ... dass man sich komisch aussehen fühlt ... die Blicke anderer meidet.

Es gibt diese Tage, an denen man bedauert, noch nicht tot zu sein, denn dann könnte man den eigenen Körper von außen sehen, genauer: die neue Frisur von allen Seiten ... auch und vor allem von hinten! Im Salon ist man trotz der allgegenwärtigen Spiegel zu benebelt von den chemo-orientalischen Düften der Shampoos, der Spülungen, der Sprays und er Tönungen ... von allem was da in der Luft liegt ... (ist das Absicht?).

Damals fehlte mir nur noch ein Schritt, um wirklich ein freier Mensch zu werden: ich musste mich lossagen von den Friseuren ... aber ich war noch nicht so weit. Gleichwohl: die erbarmungslose Logik des Haarausfalls hatte die Zukunft schon determiniert: es würde ihn geben ... es gab ihn schon: den letzten Friseur - ich wusste nur noch nicht, wer es sein würde ...

Und ich wusste es selbst in dem Moment noch nicht, als ich seinen Laden betrat. "Muss es nicht normalerweise heißen: 'als ich seinen Salon betrat'?", werden Sie jetzt fragen - nein, denn "normal" war hier gar nichts, nicht der Laden und schon gar nicht der Mann. Zwei Meter groß war er, übergewichtig und schlampig gekleidet ... aber das passte: so fügte er sich harmonisch in eine Umgebung, die das Leitmotiv "Sperrmüll" liebevoll bis ins Detail hinein durchhielt. Alles, aber auch wirklich alles war hier ein bisschen zerschabt, zerkratzt, verbeult, rissig und angeschlagen.

Es war ein wenig so, als würde ein wegen seiner überdimensionalen Größe gemiedenes Kind auf dem Dachboden Friseursalon spielen ... mit allen Sachen, die da so verstaubt vor sich hin lagern. Und mir war es nun bestimmt, für eine Weile mitzuspielen und ihn seine Einsamkeit vergessen zu lassen.

Damit das klar ist: Es war ein richtiger, gelernter Friseur mit Abschlusszeugnis, Diplom oder Lizenz (oder wie immer man das in diesem Gewerbe nennen mag). Er war eben nur - wie soll man sagen? ... er war sozusagen in den Untergrund gegangen. Das war es wohl auch, was meine Freunde und Bekannten aus der linken Szene in seine Bude gelockt hatte - und was sie mit lustigen Anekdoten wieder herauskommen ließ. Das dachte ich mir: 'Ich versuch es auch mal.' Ich hätte misstrauischer sein sollen: Alle diese Freunde und Bekannten, die von diesem Friseur erzählten, berichteten immer nur von einem einzigen Besuch bei ihm ...

Informell wie die Inneneinrichtung des Ladens war auch die Begrüßung: Ich wurde geduzt ... ansatzlos und ohne Vorwarnung. Das war mir mit den konventionellen Vertreterinnen und Vertretern des haarschneidenden Gewerbes auch noch nicht passiert. Und als ob er doch zumindest ein Klischee erfüllen wollte, redete er in dem hektisch näselnden Tonfall eines zu plump geratenen Karl Lagerfeld auf mich ein.

Ich setzte mich auf einen Stuhl - einen ganz normalen Stuhl! - und erklärte dem Spiegelbild des Friseurs, dass ich die Haare rasiert und nicht geschnitten haben wollte. Er konnte das kaum fassen ... Kamm und Schere hatte er nämlich schon in der Hand. "Mit der Maschine etwa?", fragte er zurück. "Ja", sagte ich. "Wie ein Schaf?" Ich wollte nicht Ja sagen , deshalb deutete ich nur ein Nicken an. Rasieren: Das war nun unter seiner Würde ... und er ließ es mich spüren ... und ich spürte es auch.

Immerhin: er redete noch mit mir - was aber auch nicht so toll war, denn er fing an, mich auszufragen. Offenbar wollte er ganz genau wissen, wen oder was er da in seinen Fingern hatte.

Obwohl Kant und Schopenhauer die bloße Idealität von Zeit und Raum behaupten, ist es mir nicht möglich, meinem früheren Ich die Hand auf den Mund zu pressen, um es am antworten zu hindern. Ohne mir Arges dabei zu denken, gab ich preis, in Philosophie promovieren zu wollen. Das hätte ich lieber lassen sollen ... das mit dem preisgeben meine ich. Mein Friseur hielt inne und schaltete sogar kurz die Schermaschine ab, um seine Worte voll und ganz zur Geltung zu bringen, denn er war fassungslos: "Das ist ja das Letzte!", rief er aus. Wie wolle ich denn damit jemals Geld verdienen? Mit so was! Immerhin stand er den Wissenschaften nicht gänzlich ablehnend gegenüber: "Wenn schon, dann hättest Du Chemie studieren sollen - da kann man sich wenigstens seine Drogen selber machen!"

Trotz 20 Semestern Philosophie fühle ich mich noch immer nicht dazu in der Lage, Leuten sagen zu können, wie sie ihr Leben führen sollten. Dabei hätten doch drei Jahre Ausbildung zum Haarabschneider gereicht, aus mir einen Weltweisen und Lebensberater zu machen. Gerne hätte ich damals die Zähne zusammengebissen, aber ich wollte etwas sagen, wollte zum Gegenschlag ausholen: "Und ... wie war das so?", fragte ich, "in so einem Salon eine Ausbildung zu machen ...?" Volltreffer! Ich hatte es geschafft: jetzt wurde er ganz einsilbig und die Plauderlaune war von ihm abgefallen.

In einer Zeit, in der es immer mehr Zahnärzte gibt, die spezielle Bahandlungen für Patienten mit Zahnarztangst anbieten oder sogar Behandlungen unter Vollnarkose, in so einer Zeit sollte es doch auch Friseure geben, die mit einem ganz besonderen Serviceangebot locken: Haareschneiden ohne Small-talk, ohne lästiges Geplauder ... oder eben gleich unter Vollnarkose.

Glücklicherweise dauerte es nicht so lange, meinen Kopf zu rasieren, da die zu bearbeitende Grundfläche bei mir ohnehin schon sehr übersichtlich geworden war ... und wenn man sich nur noch anschweigt, dann geht es sogar noch schneller. Ich zahlte schließlich und schon im Gehen war mir klar: das hier und das jetzt, das war mein letzter Freiseurbesuch. Nie im Leben werde ich mich wieder so einem Figaro oder Barbier ausliefern ...

Ein paar Wochen später kaufte ich mir mein eigenes Haarschneidegerät.

Donnerstag, 31. Oktober 2013

Zur Psychologie der Gebrauchsgegenstände (Teil 3)

Gewalt ist keine Lösung! Mit diesem Slogan bin ich groß geworden, aber heute - heute glaube ich nicht mehr daran. Niemand hat je daran geglaubt, auch die nicht, die ihn so lauthals verkündet haben. Es gab da immer diese Klausel: 'Nun ja ... äh ... Gewalt gegen Dinge kann unter Umständen in Ordnung sein.' Ich bin da radikaler: Gewalt gegen Dinge ist nicht nur 'unter Umständen in Ordnung', sie ist sogar nötig, wenn die Dinge nicht richtig spuren wollen!

Es ist kalt geworden in den letzten Wochen. Auch ich gehöre zu den Vielen, die an das ungeschriebene Gesetz glauben: Erst ab Oktober wird geheizt! ... und so hustete und schniefte ich mich durch die letzten Septembertage. Ich haderte mit meinem Vorsatz und trotzte mir schließlich einen Kompromiss ab: 'Na gut ... zumindest im Bad kann ich die Heizung schon mal aufdrehen.' Sie müssen wissen: Ich dusche nämlich nackt - was den Nachteil hat, dass ich (außer vielleicht an den tropischen Tagen des Juli) immer ein wenig fröstelnd in die Duschkabine steige und aus ihr wieder heraus komme.

Und wie das so ist mit den Kompromissen: Dadurch, dass ich den Heizkörper im Bad aufdrehte, war das Eis gebrochen ... und ich wollte es auch im Wohnzimmer von nun an mollig warm haben. Vor allem, als die Abende merklich kühler wurden. Aber es war doch noch September! Mit schlechtem Gewissen legte ich Hand an den Regler. 'Nur ein bisschen', sagte ich mir. Aber das kleine bisschen reichte nicht. Das erwartete Rauschen, Gurgeln und Plätschern blieb aus: Da drehte ich voll auf - noch immer kein Laut, keine Wärme, kein Garnichts.

Und jetzt, erst jetzt, als ich einsehen musste, dass der Heizkörper nicht funktionierte, fing ich so richtig an zu frieren. Vorher habe ich gleichsam spielerisch gebibbert ... jetzt war es bitterer Ernst. Ich trat einen Schritt zurück, sah den Heizkörper mit festem Blick an und fragte: "Warum tust Du mir das an? Monatelang habe ich Dich in Ruhe gelassen ... ich habe Dir Zeit für Dich selbst gegeben ... nichts musstest Du für mich tun ... Du konntest es Dir so richtig gut gehen lassen ... ohne Sorgen, ohne Verpflichtungen ... ohne alles. Und dann bitte ich Dich um einen kleinen Gefallen, um ein wenig Wärme - und dann kommt nichts, überhaupt nichts ...!"

Der Heizkörper blieb stumm - ebenso gut hätte ich mit der Wand reden können, an der er hängt. Aufgebracht drehte ich noch einmal am Regler - noch immer nichts.

Diese Undankbarkeit erbitterte mich. Hatte er es denn nicht gut bei mir? An dem kleinen Heizkörper im Bad sollte er sich mal ein Beispiel nehmen. Der macht seinen Job! Gut ... er macht ihn so, wie die Lakaien, die in russischen Romanen des 19. Jahrhunderts beschrieben werden: unwillig, bestenfalls halbherzig, unter Ächzen und Stöhnen ... oder in der Heizkörpersprache: mit einem Geräusch, das am ehesten als gestottert spuckendes Pladdern zu beschreiben ist. Aber er macht es! Dabei hat er es bei weitem nicht so gut. Mein Apartment hat nur ein Fenster. Das Bad liegt also selbst in den Sommermonaten im Dunkeln. Nur ein paar Mal am Tag her er menschliche Gesellschaft ... und der Fernseher, das Radio und der CD-Player sind da drin kaum zu hören. Einsam und langweilig ist es in so einem Badezimmer. Dieser Heizkörper hätte also allen Grund, in Depressionen zu verfallen und den Dienst zu verweigern ... vor allem mit der Aussischt, da niemals raus zu kommen. Die einzige Reise, die er noch unternehmen wird, das wird die Reise zum Schrottplatz sein. Und das Letzte, was er von dieser Welt sehen wird, das wird der klaffende Schlund einer Schrottpresse sein. Mir an seiner Stelle würde angesichts einer solchen Aussicht die Lust am Warmwerden gründlich vergehen.

Und auch so war mir schon kalt genug. Es war eine Form der Kälte, die nichts mit Außen- oder Zimmertemperaturen zu tun hat. Draußen schien sogar die Sonne ... einen Nachsommer andeutend. Und ich schichtete Pullover und lange Unterhosen über meinen Körper und hüllte mich in eine Wolldecke. Das half nicht ... konnte nicht helfen gegen diese Kälte, die von innen kam: die eisige Kälte der Enttäuschung, der Verbitterung.

Nein, ich habe nicht nach dem Heizkörper getreten ... ich schlage keine Gebrauchsgegenstände. Aber eingeredet habe ich auch nicht mehr auf ihn ... so sehr war unsere Beziehung zu diesem Zeitpunkt schon abgekühlt.

Auf dem Weg zum Einkaufen traf ich draußen den Mann der Hausverwalterin. Ich schilderte ihm mein Problem und er versprach mir, seine Frau zu informieren. "Síe wird dann bei Ihnen vorbei kommen, mit dem Hammer und dem Schraubenzieher. Das geht dann ganz schnell." Einerseits beruhigte es mich, dass offenbar kein Handwerker eingeschaltet werden musste. Handwerker in der Wohnung - das hat immer etwas von einer Alien-Invasion ... nur dass es schlimmer ist: Außerirdische sind nicht so fremdartig und man kann besser mit ihnen kommunizieren. Zum anderen war ich aber auch beunruhigt: War dieser Mann, der da vor mir stand, denn nicht viel besser für den Job geeignet? Ein regelrechter Bär, so groß, so breit, mit kurzgeschorenem, grauem Haar. Sein bloßer Anblick würde meiner Heizung schon eine panische Hitze durch die Rohre jagen. Aber gut ... dann nicht ... dann eben seine Frau.

Sie kam vorbei und ich musterte sie, wie sie da durch mein Wohnzimmer trippelte. Wo war der versprochene Schraubenzieher, wo der verheißene Hammer? Mit was für Hilfsmitteln wollte sie es mit dem störrischen Heizkörper aufnehmen? Sie müssen wissen: meine Hausverwalterin ist sehr klein, sehr zierlich und die Jüngste ist sie auch nicht mehr. Sie sprach mit leiser, ruhiger Stimme vor sich hin und hielt sich keinen Augenblick damit auf, sich drohend vor dem unbotmäßigen Gerät aufzubauen. Nein, sie ging sofort zur Sache ... schraubte dem Heizkörper routiniert den Regler ab und schlug ihm das Ding mehrmals um die Ohren ... so jedenfalls kam es mir vor ... während ich daneben stand und den Atem anhielt. Sie schlug hart zu, entschieden und doch ohne jede Wut. Sie schlug mit dem Regler auf das ein, was sie durch das Abschrauben freigelegt hatte. Nein, sie brauchte wirklich keinen Hammer ...

Dann lauschte sie ... und es enttäuschte sie, was sie da hörte (oder eben nicht hörte) ... ohne Kommentar, ohne Warnung schlug sie erneut zu ... mehrmals ... hart ... trocken ... Gewalt, die durch ihre Beiläufigkeit nur um so grauenerregender wirkte. Der Regler wurde wieder angeschraubt ... aufgedreht ... und es hatte funktioniert. Die Schläge hatten gesessen und ihre Wirkung nicht verfehlt. Es wurde mir erklärt, dass sich da irgendetwas verklemmt hätte. Ich verstand das alles nicht ... ich war wie betäubt ... als hätte mindestens einer der Schläge auch mich getroffen. Ich bedankte mich überschwänglich und die Hausverwalterin ging.

Vorsichtig, fast ein wenig ungläubig, legte ich die Hand auf den Heizkörper: Er war nicht einfach nur warm, er war richtiggehend heiß. Dieser Heizkörper heizte jetzt, als hinge sein Leben davon ab. Ohne Murren ... und das heißt: ohne Rauschen und Plätschern. Es war fast ein wenig so aus, als hätte ihm das gefallen ... Mir schauderte es bei diesem Gedanken. Gewalt ist also doch eine Lösung, wenn die richtigen Leute sie auf die richtige Art ausüben. Und überhaupt: manche Geräte scheinen das zu brauchen.

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Die Welt der Komplexe

Meine Damen und Herren, genießen Sie mich, solange Sie mich noch haben. Nein, keine Angst, ich bin nicht krank, aber ich bekomme vielleicht bald einen Job in der einzigen Branche, die wirklich krisensicher ist: in der Pharmaindustrie. Ich habe nämlich festgestellt, dass ich das Talent habe, neue, bisher unbekannte Krankheiten zu entdecken. Denken Sie jetzt nicht, dass ich ein Hypochonder bin. Das bin ich wirklich nicht – zumindest nicht im klassischen Sinn. Wenn überhaupt, dann habe ich eine projektive Hypochondrie. Und damit wäre ich schon bei meinem heutigen Thema. Ich bilde mir nämlich nicht ein, dass ich Krankheiten habe, an denen ich gar nicht leide, sondern ich bilde mir ein, dass andere Leute an Krankheiten leiden, für die es nur noch keinen Namen gibt.

Und hier komme ich ins Spiel - und meine Karrierechancen in der Pharmaindustrie. Die braucht nämlich ständig neue Krankheitsbilder, um immer neue Medikamente - oder genauer: die alten Medikamente in neuen Verpackungen und zum doppelten Preis - auf den Markt bringen zu können. Und auch ich brauche Geld. So einfach kann das Leben sein.

Ich bin auf diese Idee gekommen, als ich einmal beim Surfen im Internet auf ein Interview mit der Schauspielerin Cameron Diaz stieß. Da sagte sie, dass sie gerne Frösche küsst. Ernsthaft! Und nach eigener Aussage glaubt sie gar nicht daran, dass auf diese Weise ein Märchenprinz entstehen könnte. Nein, sie küsst einfach gerne Frösche, denn sie mag diese Tiere.

Aber was, so fragte ich mich, was kann eine erwachsene Frau - zudem noch eine, die ja nun wahrlich jeden halbwegs funktionalen heterosexuellen Mann haben könnte - was um alles in der Welt bringt eine solche Frau dazu, Frösche küssen zu wollen? Und dann hatte ich meine Eingebung: Es gibt da vielleicht eine Form des abweichenden libidinösen Verhaltens, die noch niemandem aufgefallen ist, weil es einfach noch keinen Namen dafür gibt: die Batrachophilie. Es handelt sich darum, dass Personen sich sexuell von Fröschen angezogen fühlen. Wenn Sie es nicht so mit Fremdwörtern haben, können Sie das auch als den Froschkönigskomplex bezeichnen. Aber sparen Sie sich die Mühe, das bei Sigmund Freud nachschlagen zu wollen. Dieser Komplex war ihm unbekannt; da hat der Autor der Traumdeutung schlicht und ergreifend gepennt. Mir soll's recht sein. Ich habe diesen Komplex entdeckt! - Und so begann ich, meine Umwelt mit ganz anderen Augen zu sehen.

Zum Beispiel: Kennen Sie auch Leute, die nie mit der Sprache herausrücken wollen, die geheimniskrämerisch selbst das für sich behalten wollen, was doch eh schon alle wissen? Diese Leute sind krank. Sie leiden ganz eindeutig an einem Rumpelstilzchenkomplex. Zugegeben: Die Diagnose ist nicht so einfach, denn diese Leute hüpfen nicht die ganze Zeit lang im Kreis herum und singen: "Ach, wie gut, dass niemand weiß …" Aber es ist eindeutig. Sie leiden unter einer Verhaltensstörung.

Sehr schlecht kommt man auch mit Leuten klar, die das Sherlock-Holmes-Syndrom befallen hat. Dieser große Meisterdetektiv hat ja bekanntlich die Fähigkeit, aus einem einzigen Stiefelabdruck im Matsch schließen zu können, dass sein Träger unehrenhaft aus der Kolonialarmee entlassen wurde, kurzsichtig ist und seine Kindheit bei den Großeltern in Swansea verbracht hat. Und genau so glauben viele unserer Mitmenschen, aus einer einzigen Äußerung, die wir da mal unbedacht von uns gegeben haben, unsere ganze Biographie und Lebenseinstellung ableiten zu können. Diese Leute sind harmlos ... wenn man einmal davon absieht, dass sie einem ziemlich auf den Zeiger gehen können. Gesellschaftlich akzeptiert ist diese Störung nur dann, wenn diese Leute es an die Uni schaffen und Soziologen werden. Theodor W. Adorno war so einer. Irgendwann in den 40er oder 50er Jahren sah er einmal jemanden orientierungslos durch ein Kaufhaus irren und sofort war ihm klar, wie der Faschismus entstanden sein muss. Ich zitiere: "Die Fülle des wahllos Konsumierten wird unheilvoll. Sie macht es unmöglich, sich zurechtzufinden, und wie man im monströsen Warenhaus nach einem Führer sucht, wartet die zwischen Angeboten eingekeilte Bevölkerung auf den ihren." - 'Der hat ja eine Macke', werden Sie jetzt denken, und Sie haben Recht. Ein ganz klarer Fall von Sherlock-Holmes-Syndrom.

Sie sehen, meine Damen und Herren, wenn man erst einmal die Namen hat, dann sieht man auch die Krankheiten und erst dann ist es möglich, eine Pille dagegen zu entwickeln. Ich verspreche Ihnen, wenn ich den Job bekomme, dann werde ich mit den Chemikern zusammenarbeiten und wir werden die Sache in den Griff bekommen ... jede Sache.

Donnerstag, 3. Oktober 2013

Die deutsche Teilung

Mit werden Sie das schon gekriegt haben: Heute ist der Tag, an dem die deutsche Wiedervereinigung gefeiert wird. Ich stimme denjenigen zu, die behaupten: an sei die Wiedervereinigung noch nicht in allem Köpfen gekommen. Schon damals, so in den Jahren 89/90, konnte man hören: „Wiedervereinigung? Also ab fahr ich da nicht drauf!“ Und viel hat sich da nicht dran geändert.

Das ist auch kein Wunder. Die Deutschen teilen eben gern – allerdings nicht mit anderen. Wenn Sie schon mal was teilen, dann sich. Wenn man sie vereingt, also zusammen mit anderen zwängt, dann fangen sie an zu grummeln: „Da hab ich ja nu gar keinen Bock drauf!“

Glücklicherweise bleibt solchen Leuten immer noch die Sprache – diese wundervolle, zu Unrecht zu oft gescholtene deutsche Sprache. An ihr und in ihr lebt der Deutsche seinen naturgegebenen Hang zur Teilung, zur Abspaltung, zur Separation und Alleinstellung aus. Ab können Sie mir das nehmen, ehrlich. So schnell auf wird das nicht hören. Schauen Sie doch mal dem deutschen Volke aufs Maul: Weit und breit gibt es da keinen, der da Ausschlag von bekommt. Außer mir vielleicht. Und immer wieder muss ich mir sagen: Um darf dich das jetzt nicht hauen!

Und wer da sagt: „Deutsche Einheit? Da hab ich kein Problem mit“, der lässt durch seinen Sprachgebrauch erkennen, dass er genau das Gegenteil von dem denkt, was er (und wie er es) sagt. So richtig psycho sollte man das mal analysieren – aber da habe ich keine Ahnung von.

Und sie, die deutsche Sprache, lässt das alles nicht nur zu. Sie zuckt mit den Schultern wenn die Freunde der Teilung sie loben. Sie lächelt und säuselt den Satz, den man immer wieder von Leuten hört, wenn ein Dankeschön sie in Verlegenheit bringt: „Da nicht für!“

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