Donnerstag, 14. November 2013

Der letzte Friseur

Ich habe überlebt ... wider Erwarten ... und wider Willen. Ich habe alles hinter mir und kann jetzt darüber berichten. Es ist nicht das Ende, wenn man als Mann seine Haare verliert - es fühlt sich nur so an. Man hat ja schon von allen möglichen abstrusen Krankheiten gehört, aber der letale Haarausfall gehört nicht dazu. Es tut nicht weh, wenn ein Haar ausfällt oder mehrere - zumindest nicht körperlich.

Schon mit ungefähr 16 Jahren wusste ich, was da bei mir im Gange war. Nach dem Baden stand ich mit nassen Haaren vor dem Spiegel und klatschte sie mir alle glatt an den Hinterkopf. Dann faltete ich die Hände über der Stirn, die Unterkante der kleinen Finger genau über dem Haaransatz. Er lag schon damals beunruhigend weit oben. Und so, mit den gefalteten Händen über der Stirn, erzeugte ich die Illusion einer Glatze. Der Blick in den Spiegel war ein Blick in meine Zukunft. Sie gefiel mir nicht. Aber jetzt wusste ich, woran ich war - und ich nutzte die kommenden Jahre, um mich damit abzufinden.

Hier ein Wort an die forschende Pharmaindustrie: Ihr seid auf dem Holzweg! Das Problem ist nicht das Haar, nicht seine schwächliche Wurzel oder ein Übermaß an Testosteron, das Problem sind die anderen Menschen (wie so oft ... wie fast immer). Durch ihren Spott und erst recht durch ihre in aller Unschuld geäußerte Vorliebe für langes, wallendes Männerhaar machen sie den Haarausfall zu meinem Problem. Hier zeigt sich die unterschwellige Grausamkeit, die alle zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmt. Schließlich gilt: Haare sind Körperteile - das muss man sich immer klar machen. Wer schon bei dem Gedanken erschauert, bei einem Unfall oder durch eine Operation einen Körperteil einzubüßen, der sollte doch eine ungefähre Vorstellung davon haben, wie es ist, Tausende davon zu verlieren ... was sage ich! Abertausende!

Verzweifelte Situationen provozieren verzweifelte Maßnahmen. So verlangte ich schließch im Friseursalon nicht mehr danach, meine Haare schneiden, sondern sie nur noch rasieren zu lassen. Das Ab-damit! genügte mir nicht mehr ... jetzt brach sie an: die Zeit des Weg-damit! Und was für eine Befreiung das war - nicht nur finanziell, nicht nur psychologisch, sondern auch ästhetisch. Denn auf dem Kopf rasiert zu werden ist nicht nur billiger, es kann auch nichts mehr schief gehen. Klar: wer sich in einem vollständigen Frisurverzicht übt, der ist der Sorge ledig, dass da irgendwas nicht richtig geschnitten wurde ... dass man sich komisch aussehen fühlt ... die Blicke anderer meidet.

Es gibt diese Tage, an denen man bedauert, noch nicht tot zu sein, denn dann könnte man den eigenen Körper von außen sehen, genauer: die neue Frisur von allen Seiten ... auch und vor allem von hinten! Im Salon ist man trotz der allgegenwärtigen Spiegel zu benebelt von den chemo-orientalischen Düften der Shampoos, der Spülungen, der Sprays und er Tönungen ... von allem was da in der Luft liegt ... (ist das Absicht?).

Damals fehlte mir nur noch ein Schritt, um wirklich ein freier Mensch zu werden: ich musste mich lossagen von den Friseuren ... aber ich war noch nicht so weit. Gleichwohl: die erbarmungslose Logik des Haarausfalls hatte die Zukunft schon determiniert: es würde ihn geben ... es gab ihn schon: den letzten Friseur - ich wusste nur noch nicht, wer es sein würde ...

Und ich wusste es selbst in dem Moment noch nicht, als ich seinen Laden betrat. "Muss es nicht normalerweise heißen: 'als ich seinen Salon betrat'?", werden Sie jetzt fragen - nein, denn "normal" war hier gar nichts, nicht der Laden und schon gar nicht der Mann. Zwei Meter groß war er, übergewichtig und schlampig gekleidet ... aber das passte: so fügte er sich harmonisch in eine Umgebung, die das Leitmotiv "Sperrmüll" liebevoll bis ins Detail hinein durchhielt. Alles, aber auch wirklich alles war hier ein bisschen zerschabt, zerkratzt, verbeult, rissig und angeschlagen.

Es war ein wenig so, als würde ein wegen seiner überdimensionalen Größe gemiedenes Kind auf dem Dachboden Friseursalon spielen ... mit allen Sachen, die da so verstaubt vor sich hin lagern. Und mir war es nun bestimmt, für eine Weile mitzuspielen und ihn seine Einsamkeit vergessen zu lassen.

Damit das klar ist: Es war ein richtiger, gelernter Friseur mit Abschlusszeugnis, Diplom oder Lizenz (oder wie immer man das in diesem Gewerbe nennen mag). Er war eben nur - wie soll man sagen? ... er war sozusagen in den Untergrund gegangen. Das war es wohl auch, was meine Freunde und Bekannten aus der linken Szene in seine Bude gelockt hatte - und was sie mit lustigen Anekdoten wieder herauskommen ließ. Das dachte ich mir: 'Ich versuch es auch mal.' Ich hätte misstrauischer sein sollen: Alle diese Freunde und Bekannten, die von diesem Friseur erzählten, berichteten immer nur von einem einzigen Besuch bei ihm ...

Informell wie die Inneneinrichtung des Ladens war auch die Begrüßung: Ich wurde geduzt ... ansatzlos und ohne Vorwarnung. Das war mir mit den konventionellen Vertreterinnen und Vertretern des haarschneidenden Gewerbes auch noch nicht passiert. Und als ob er doch zumindest ein Klischee erfüllen wollte, redete er in dem hektisch näselnden Tonfall eines zu plump geratenen Karl Lagerfeld auf mich ein.

Ich setzte mich auf einen Stuhl - einen ganz normalen Stuhl! - und erklärte dem Spiegelbild des Friseurs, dass ich die Haare rasiert und nicht geschnitten haben wollte. Er konnte das kaum fassen ... Kamm und Schere hatte er nämlich schon in der Hand. "Mit der Maschine etwa?", fragte er zurück. "Ja", sagte ich. "Wie ein Schaf?" Ich wollte nicht Ja sagen , deshalb deutete ich nur ein Nicken an. Rasieren: Das war nun unter seiner Würde ... und er ließ es mich spüren ... und ich spürte es auch.

Immerhin: er redete noch mit mir - was aber auch nicht so toll war, denn er fing an, mich auszufragen. Offenbar wollte er ganz genau wissen, wen oder was er da in seinen Fingern hatte.

Obwohl Kant und Schopenhauer die bloße Idealität von Zeit und Raum behaupten, ist es mir nicht möglich, meinem früheren Ich die Hand auf den Mund zu pressen, um es am antworten zu hindern. Ohne mir Arges dabei zu denken, gab ich preis, in Philosophie promovieren zu wollen. Das hätte ich lieber lassen sollen ... das mit dem preisgeben meine ich. Mein Friseur hielt inne und schaltete sogar kurz die Schermaschine ab, um seine Worte voll und ganz zur Geltung zu bringen, denn er war fassungslos: "Das ist ja das Letzte!", rief er aus. Wie wolle ich denn damit jemals Geld verdienen? Mit so was! Immerhin stand er den Wissenschaften nicht gänzlich ablehnend gegenüber: "Wenn schon, dann hättest Du Chemie studieren sollen - da kann man sich wenigstens seine Drogen selber machen!"

Trotz 20 Semestern Philosophie fühle ich mich noch immer nicht dazu in der Lage, Leuten sagen zu können, wie sie ihr Leben führen sollten. Dabei hätten doch drei Jahre Ausbildung zum Haarabschneider gereicht, aus mir einen Weltweisen und Lebensberater zu machen. Gerne hätte ich damals die Zähne zusammengebissen, aber ich wollte etwas sagen, wollte zum Gegenschlag ausholen: "Und ... wie war das so?", fragte ich, "in so einem Salon eine Ausbildung zu machen ...?" Volltreffer! Ich hatte es geschafft: jetzt wurde er ganz einsilbig und die Plauderlaune war von ihm abgefallen.

In einer Zeit, in der es immer mehr Zahnärzte gibt, die spezielle Bahandlungen für Patienten mit Zahnarztangst anbieten oder sogar Behandlungen unter Vollnarkose, in so einer Zeit sollte es doch auch Friseure geben, die mit einem ganz besonderen Serviceangebot locken: Haareschneiden ohne Small-talk, ohne lästiges Geplauder ... oder eben gleich unter Vollnarkose.

Glücklicherweise dauerte es nicht so lange, meinen Kopf zu rasieren, da die zu bearbeitende Grundfläche bei mir ohnehin schon sehr übersichtlich geworden war ... und wenn man sich nur noch anschweigt, dann geht es sogar noch schneller. Ich zahlte schließlich und schon im Gehen war mir klar: das hier und das jetzt, das war mein letzter Freiseurbesuch. Nie im Leben werde ich mich wieder so einem Figaro oder Barbier ausliefern ...

Ein paar Wochen später kaufte ich mir mein eigenes Haarschneidegerät.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Träume
Neulich hatte ich meinen ersten politischen Traum....
PeterMiese - 12. Jun, 13:39
Arme / Frauen
Sympathisch an Sigmund Freud ist, dass er sich so oft...
PeterMiese - 3. Jun, 12:02
Über diese Art Schilder...
Über diese Art Schilder kriege ich auch immer einen...
nömix - 2. Mai, 14:18
Ladendiebstahl
Im Eingangsbereich meines Supermarkts hängt ein richtig...
PeterMiese - 4. Apr, 14:47
Platsch!
Es war einer dieser Tage ... alles war sinnlos. Komischerweise...
PeterMiese - 28. Mär, 14:46

Links

Impressum

Dies ist kein kommerzielles Weblog. Wir haften nicht für die Inhalte von verlinkten Seiten und von Kommentaren. Wenn Sie Ihr Urheberrecht durch Inhalte auf unserem Weblog verletzt sehen sollten oder problematische Inhalte entdecken, kontaktieren Sie uns bitte. Wir schauen dann, was wir tun können. Sie erreichen uns in diesen und anderen Fällen unter mieseundvoss[at]freenet.de.

Web Counter-Modul

Suche

 

Status

Online seit 4129 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

Credits


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren