Montag, 17. März 2014

Die Ableser kommen!

Alle Jahre wieder ist es soweit: Die Heizungsableser durchkämmen mein Apartmenthaus. Und diesmal geben sie sich nicht damit zufrieden, sich nur die Zähler anzusehen. Der Ehrgeiz hat sie gepackt. Sie installieren völlig neuartige Hightech-Sensoren an den Heizkörpern ... mit allem Zipp und Zapp ... einschließlich digitaler Anzeige. Schlagartig wird mir klar, was der seltsame Lärm der letzten Tage zu bedeuten hatte, der Lärm, der aus den anderen Wohnungen zu mir durch drang. Hier muss etwas weggehobelt und da muss etwas drangedübelt werden. Und jetzt kommen sie zu mir!

Technisch sind die Ableser also im 21. Jahrhundert angekommen. Das gilt jedoch nicht für ihr Auftreten. Da befinden wir uns noch immer in dem durch Imperialismus und Krieg geprägten 20. Jahrhundert. Zunächst einmal müssen Eimer, Taschen, Geräte, Instrumente, Werkzeuge, Klemmbretter und Zettel irgendwo abgelegt werden. Ich habe auf Anordnung der Hausverwaltung zwar alles freigeräumt, trotzdem reicht der Platz nicht aus ... nur dann, wenn ich mich ganz klein mache, nicht atme und am besten auch nicht spreche. Die Ableser sind ein Volk ohne Raum – und das ist keine Ideologie, keine Propaganda, es ist die harte Wahrheit.

Ich wage es nicht, mich hinzusetzen oder auf uns ab zu gehen. So fühlt man sich also, wenn man in einem Land lebt, dass von einer fremden und feindlichen Armee besetzt wird! Wut steigt in mir auf, auch Trauer und vor allem das Gefühl einer bleischweren Hilflosigkeit. Es ist kein Zufall, dass der Existentialismus in einem besiegten und besetzten Land entstanden ist. Ich bin in einer Grenzsituation und zu allem Überfluss auch noch zur Freiheit verurteilt: Soll ich mich in mein Schicksal fügen oder Widerstand leisten? Die Franzosen konnten es doch auch, als sich die Wehrmacht in ihren Cafés rund um den Eifelturm breit gemacht hatte.

Die Parallelen sind frappierend. Der Ableser spricht deutsch – zwar ein deutlich thüringisch geprägtes Idiom, aber eindeutig deutsch – und: Er wirft begehrliche Seitenblicke auf die von mir nur halb ausgetrunkene Tasse Kaffee.

Wo geht man hin und wo soll man stehen, wenn die eigene Wohnung einem nicht mehr gehört? Soll ich mich überhaupt wehren, hat das einen Sinn? Soll ich die Tätigkeit der Ableser durch Sprengstoffanschläge sabotieren, wenn das dann doch nur dazu führt, dass sich das alles nur noch länger hinzieht und ich dann auch noch tiefe Krater in der Auslegware habe? Einen Grund, sich zu wehren, gäbe es ja. Diese neuartigen digitalen Zähler können auch von außerhalb der Wohnung abgelesen werden. Folglich kann man sie auch von draußen manipulieren. Mir fällt auf, dass sie eines dieser kleinen Augen haben, die man von der Fernbedienung kennt! Mehr als verdächtig! Wie die Manipulation möglich sein soll? Keine Ahnung, aber technisch ist ja alles möglich, wenn es darum geht, Geld zu verdienen. Andererseits müßte ich dann keine Invasoren mehr in meinem Apartment dulden. – Es ist alles so absurd.

Apropos "absurd": Wussten Sie, dass Samuel Beckett bei der Résistance mitgemacht hat? Ja, genau der Mann, der sein Leben lang von der Sinnlosigkeit alles menschlichen Handelns überzeugt war, selbst dieser Mann war damals mit dabei und hat sogar nach dem Krieg eine Auszeichnung vom französischen Staat erhalten. Das macht mir ein wenig Mut. Ich hole tief Luft und beginne zu warten und zu philosophieren. Eine solche Invasion fremder Mächte in den eigenen vier Wänden ist höchstens dann zu ertragen, wenn man etwas repariert haben will, wenn der Durchlauferhitzer nicht mehr erhitzt oder der Einbaukühlschrank nicht mehr kühlt. Das hat Sinn und Zweck. Da kann man sich sagen: Augen zu und durch. Aber das Ablesen von Heizkörpern macht alles nur noch schlimmer: Kurzfristig werden unweigerlich Nachforderungen gestellt und langfristig erhöhen sich die Nebenkosten.

Die Sekunden schleppen sich unmotiviert durch den Raum, wie die deutsche Nationalmannschaft bei einem Freundschaftsspiel gegen Nepal. Nur noch am Rande nehme ich wahr, dass die Ableser mir einen Abschiedsgruß zurufen ... denn ich denke gerade an Becketts Worte: "Einsamkeit ist das Paradies." Wortlos sacke ich in mir zusammen, die Hände noch immer verkrampft in den Hosentaschen, unfähig, mich zu bewegen, aufzuatmen oder meine Wohnung wieder in Besitz zu nehmen.

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Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

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