Rat Salad

"Er hätte nie gedacht, dass die Literatur das beste Spielzeug sei, das je erfunden worden war, damit man sich über die Leute lustig machen konnte." Gabriel Garcia Marquez Hundert Jahre Einsamkeit


Gelbe Säcke bewegen sich nicht. Normalerweise. Dieser aber schon. Und Rascheln tut er auch noch. Grund genug für mich stehenzubleiben. Ich halte nichts von Naturbeobachtung. Ehrlich gesagt verachte ich die Leute, die ich so oft im Botanischen Garten sehe, wie sie da mit verklärtem Blick die Pflanzen anhimmeln. Oder schlimmer noch: mit teuren Kameras die Blumen beim Blühen ablichten. Papparazzi sind das - und kein bisschen besser. Und was sie dann mit den Fotos machen - das will ich mir gar nicht erst ausmalen ... die Botanophilen-Szene ... gräßlich.

Aber so ein gelber Sack, der sich bewegt und dabei raschelt - das gefällt mir. Es ist auch ganz schön was los da drin. Und jetzt sehe ich auch, wer da unterwegs ist. Zwei Ratten ... mindestens. So genau ist das in dem Durcheinander nicht zu erkennen. Ratten sind ja auch nicht dafür bekannt, mit ruhiger Gelassenheit ihrem Tagwerk nachzugehen. Sie leben immer an der Schwelle zur Panik ... und dazu haben sie auch allen Grund, denn beliebt sind sie nicht gerade. Und das hier ist schon ein riskantes Unternehmen, so am helllichten Tag einen Wertstoffsack auf Essbares zu untersuchen. Fündig werden sie bestimmt, ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Menschen so akribisch jede Dose, jede Tüte und jede Plastikverpackung von Nahrungsrückständen befreien. Das, was man gleich wegwerfen wird, erst noch richtig sauber machen? Nicht mal in Deutschland kann man sich dazu aufraffen. Aber das nachlässige Wegwerfen läßt nicht unbedingt auf Geberlaune schließen. Die Ratten wissen das ... deshalb diese Hektik, mit der sie in dem gelben Sack ständig oben drüber krabbeln und unten duch schlüpfen.

Für einen Moment mache ich mir Sorgen: Was wäre, wenn die Säcke jetzt abgeholt würden? Ich sehe es vor mir: kläglich fiepsend, eingekeilt zwischen Hartplastikschalen von Fertiggerichten, Energydrinkdosen und nachlässig ausgekratzten Joghurtbechern würden sie mit dem ganzen Müll auf die Ladefläche eines Lasters geworfen, um einer ungewissen Zukunft entgegen gekarrt zu werden.

Aber nein, die kommen schon klar, die Ratten, denke ich mir dann. Als Ratte hat man immerhin den Vorteil, sich immer einen Fluchtweg freinagen zu können ... beneidenswert eigentlich, wenn man so als Mensch darüber nachdenkt. Und das Material, aus dem so ein gelber Sack besteht, bietet da nun wirklich keinen ernstzunehmenden Widerstand ... wie jeder weiß, der wie ich, schon einmal einen halbvollen und schon halbzerfetzten Sack in einen zweiten gesteckt hat, der allein durch dieses Hineinstecken auch schon wieder einen ersten Riss bekommen hat.

Einen Tag später waren dann die Säcke tatsächlich abgeholt worden. Aber eine Ratte war noch da. Sie saß aufrecht da auf ihrem Hinterteil und stemmte die Vorderpfoten in die Hüften. Wir sahen einander an. Dann blickte die Ratte wieder rüber zu der Stelle, an der gestern noch das gelegen hatte, was für sie wohl eine paradiesische Mischung aus Restaurant und Abenteuerspielplatz gewesen war. Und dann sah sie wieder mich an - vorwurfsvoll. Ich verspürte augenblichlich das Bedürfnis, mich vor ihr zu rechtfertigen ... zu erklären, dass ich keinerlei Einfluss auf den Gang des Dualen Systems habe ... zu versprechen, dass ich beim nächsten Mal üppige Speisereste an meinem Plastikmüll zurücklassen würde ... Aber dann zuckte ich doch nur hilflos mit den Schultern und ging weiter.

Später erzählte ich dann Frau Voss von dem, was ich da beobachtet und erlebt hatte. Sie ging mit verletzender Selbstverständlichkeit davon aus, dass es sich hier wieder um eine meiner gewohnten Lügengeschichten handele. Ich beschrieb ihr noch einmal die näheren Umstände, die Ratte (dunkelbraun mit ausdrucksstarken schwarzen Augen) und den Inhalt unserer stummen Zwiesprache. Aber nichts. Frau Voss ließ sich nicht von der Tatsächlichkeit der Begebenheit überzeugen. Mehr noch: Sie riet mir, "diese Geschichte", wie sie meinen Erlebnisbericht abfällig nannte, auf keinen Fall in einer realistischen Erzählung oder einem Roman zu verwenden. "Zu weit hergeholt", das war ihr Urteil.

Wieder einen Tag später traf ich erneut mit der Ratte zusammen. Fast hätte ich sie übersehen, denn sie verbarg sich hinter einem der Räder dieser rollbaren Müllcontainer. Geduckt saß sie da ... nicht lauernd, aber doch abwartend. Das war clever, denn sie hatte die Dusseligkeit der Menschen auf der Rechnung. Auch ich hatte schon oft genug beobachtet, dass die ersten Säcke schon einen Tag nach dem Abholtermin rausgestellt werden ... was ihnen die Gelegenheit gibt, 14 Tage lang als Partyzone für Ratten und Krähen zu dienen.

Ich kauerte mich vor den Müllcontainer hin und erzählte der Ratte, dass Frau Voss unsere Geschichte für unglaubwürdig hielt. Unwillg schüttelte die Ratte den Kopf und sagte: "Die hat wohl noch nie etwas vom Magischen Realismus gehört ... bei dieser narrativen Strategie verschwimmt die Grenze von Wirklichkeit und Traum ... und das ist auch gut so ... ich könnte hier keinen Tag durchhalten in diesem Dreck, den die Menschen da machen, wenn ich immer nur an die Wirklichkeit denken würde ... Klar: man muss die Augen schon offen halten - nicht nur wegen dieser blöden Katzen, die hier überall rumlaufen", und sie spuckte verächtlich bei dem Wort "Katze" neben sich auf den Boden, "... nein, sondern auch, weil einem dieser Zauber der Dinge sonst entgehen würde, die kleinen Wunder, das, was man für unmöglich gehalten hat, und was dann doch ganz plötzlich Wirklichkeit wird."

Und dann beschrieb sie mir wortreich ein solches Wunder. Sie erzählte von den Fleischstücken und Schinkenscheiben die manchmal (wenn auch leider viel zu selten) im Müll zu finden sind: noch verpackt in unversehrten Plastikhüllen ... und das Verfallsdatum ist nach nicht einmal abgelaufen! So etwas zu finden: ein magischer Moment ... ein Moment, in dem sich das Unwirkliche einen Weg in die Wirklichkeit gebahnt hat ... und so weiter ...

Die Ratte konnte noch sehr viel mehr zu diesem Thema sagen ... sie steigerte sich geradezu hinein. Für mich hieß das, dass sie auch mal hin und wieder einen Abstecher in einen Altpapiercontainer machte, um dort das Feuilleton einer renomierten Wochenzeitung oder die Fehlausdrucke von literaturwissenschaftlichen Doktorarbeiten meiner Nachbarn zu studieren. Und natürlich zerfledderte Ausgaben der Romane von Marquez. Sie hat schon Recht: man kann nicht immer nur nach Nahrung suchen ... man braucht auch Ideen und Fiktionen, um über den den Tag zu kommen.

'Und überhaupt', dachte ich so auf meinem Weg durch die Fußgängerzone, 'es wird nur eine Frage der Zeit sein, wann der erste Roman erscheinen wird, der von einer Ratte geschrieben wurde ... dann wird es zu einem regelrechten Boom kommen ... und dann, in ferner Zukunft, wird es auf der Frankfurter Buchmesse einen Themenschwerpunkt Literatur der Nagetiere geben' ... Ich will ja nichts gegen die brasilianische Literatur sagen, die in diesem Jahr gewürdigt wurde oder gegen die finnische ... es ist ja in Ordnung, wenn eine kanadische Autorin den Literaturnobelpreis bekommt ... aber: der Roman einer Ratte, das wäre wirklich mal was ganz Neues, etwas ganz anderes, mit Einsichten, auf die man so als Mensch wohl niemals kommen würde.

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